Eines morgens wachte ich auf und wußte schon, es war einer dieser Tage, an denen ich am besten im Bett liegen bleiben sollte.
Mein Rücken
schmerzte, mein Kopf dröhnte. Ich hatte total unruhig geschlafen. Trotzdem kroch ich aus dem Bett und trottete ins Bad. Ein
paar Spritzer
kaltes Wasser sollten meine Lebensgeister auf Trab bringen. Zu meiner Freude war die Zahnpastatube leer, bis auf den letzten
Rest ausgequetscht.
Beim Frühstück schüttete ich mir ungeschickter Weise den Kaffee über die Hose und das morgendliche Honigbrot konnte ich mir
auch abschminken, denn das Brot von letzter Woche war verschimmelt. Nur raus hier, dachte ich, zog mir eine frische
Hose an und ging zur Arbeit.
Zur weiteren Freude waren zwei meiner Kollegen krank und ich sollte deren Arbeit zusätzlich übernehmen. Ohne ein Wort des
Protestes stürzte ich mich in die Arbeit. Denn ich dachte, das würde mich ablenken. In der Mittagspause war es dann
soweit. Ich war total ausgepowert, mein Kopf brummte schlimmer als zuvor. Glücklicherweise erstand ich eine nicht allzu angebrannte Bratwurst am Imbiß und schlürfte zwei Kopfschmerztabletten mit einer Cola hinunter. Doppelt hält besser!
Nachdem ich gegen Abend mein dreifaches Pensum an Arbeit geschafft hatte, meine ohnehin anschauliche Anzahl an Überstunden
noch aufgestockt hatte, trabte ich müde und mürrisch nach Hause. Die Aussicht auf eine schöne Tasse heißen Tee ließ
meine Stimmung kurzfristig etwas aufhellen. Doch zu Hause mußte ich feststellen, daß es kein Wasser gab. Eine Straße
weiter gab es einen Rohrbruch. Ich nahm mir ein Bier, das einzige Getränk sonst im Haus. Nachdem ich mir die hundertste Wiederholung einer Krimiserie angesehen hatte, schlief ich auf der Couch ein und träumte.
Im Traum lief ich vor etwas davon. Ich rannte und rannte, ohne zu wissen wovor ich wegrannte. Ich riskierte einen Blick nach
hinten und erschrak fürchterlich. Riesige verkohlte Bratwürste rannten hinter mir her. Sie schauten sehr böse drein,
aus ihren Mundwinkeln lief Zahnpasta und sie warfen leere Zahnpastatuben nach mir. Ich rannte weiter. Auf einmal hatte ich keine Schuhe mehr an. Meine Füße schmerzten, doch ich rannte weiter, von der Angst angetrieben. Im nächsten Moment stand ich vor
einem Abgrund. Eine tiefe, schwarze Schlucht tat sich vor mir auf. Sollte ich mich von grimmigen Bratwürsten fressen
lassen, oder sollte ich mich in die Tiefe stürzen? Noch einmal blickte ich mich um. Es waren keine verkohlten, Zahnpasta-sabbernden Bratwürste mehr zu sehen. Statt dessen eilten Leute mit Einkaufstaschen und Aktentaschen an mir vorbei. Einige
sahen mich spöttisch an, andere mitleidig. Kinder zeigten mit den Fingern nach mir und lachten. Ich sah an mir runter
und bemerkte, daß ich keine Hose mehr anhatte. Beschämt drehte ich mich um und war entschlossen, mich in die Tiefe des
Abgrunds zu stürzen.
Ich schloß die Augen als jemand sagte: „Sieht wirklich düster aus dort unten.“ Ich blickte mich noch einmal um und neben mir stand ein
mittelgroßer junger Mann mit Brille und schulterlangen blonden Haaren. Er sah nicht auf, als ich ihn anstarrte, er blickte intensiv in die schwarze Schlucht, als gäbe es dort etwas interessantes
zu sehen. Als er weiter sprach, sah ich tatsächlich, daß sich in der Schlucht etwas tat. Er sprach von Naturkatastrophen und ich sah in der Schlucht einen Wirbelsturm toben, der sämtliche Bäume
aus dem Boden riß. Dann fing es an zu regnen und zu stürmen. In kurzer Zeit gab es Hochwasser, das alles wegzuschwemmen drohte. Menschen kletterten auf die Dächer ihrer Häuser
und schrien um Hilfe. Einige konnten mit Hilfe eines Hubschraubers gerettet werden, andere wurden von den Fluten mitgerissen und ertranken. Ich war wie gebannt. Der Mann sprach weiter, er sprach
von Kriegen. Ich sah, wie sich Menschen gegenseitig erschossen. Von wilder Wut und Verzweiflung getrieben. Die erschütternden Schreie der Gefallenen hallte in meinen Ohren, als es in der Schlucht
wieder dunkel wurde.
Jetzt erzählte der Mann von Politik. Ich sah, wie einige Politiker einem Bettler die Pfennige aus dem Bettelhut nahmen und sie einschmolzen, und zu einem Kampfflugzeug formten. Einem
kranken alten Arbeiter nahmen sie das Hemd weg, um sich darin die Nase zu schneuzen. Auf einmal waren die Politiker auf einem riesigen Kreuzfahrtschiff, mit lauter alten Leuten. Diese setzten sie
in die zu Rettungsbooten umfunktionierten Särge, gaben ihnen Wasser und Brot und ließen sie ins Meer hinab. Jeder einzelne dieser alten Leute hatte zuvor noch die Tapferkeitsmedaille verliehen
bekommen. Wieder wechselte der junge Mann das Thema. Ich sah Verkehrsunfälle. Menschen eingequetscht in den übriggebliebenen Schrott ihrer Autos, blutend, um Hilfe schreiend, während sich andere
Menschen gaffend um die Unfallstelle drängelten. Ich sah einen Mann, der seine Frau fast zu Tode prügelte. Einen Angestellten, der seinem Chef die Schuhe putzte und die Füße küßte. Menschen, die
sich wegen eines Fußballspiels an die Gurgel gingen.
Als der Mann seinen Monolog beendete und weiterging, stand ich wie erstarrt immer noch an derselben Stelle. Nein, in dieser Welt wollte ich nicht leben. Ich verlagerte mein Gewicht
und wollte gerade zum Sprung abheben, als ich eine rauhe, ruhige Stimme hörte: „Wollen sie auch zu den Aufgebern dieser Welt gehören?“ Verwundert blickte ich in das Gesicht einer alten Frau,
deren sanften, gütigen Augen mich eine wohlige Wärme spüren ließ. Ein kleines Kind kam angesprungen, nahm mich bei der Hand, sah mich erwartungsvoll an und fragte: „Spielst du mit mir?“
© by Nicole Konrad
"Die Dinge, die wir sehen", sagte Pistorius leise, "sind dieselben Dinge, die in uns sind. Es gibt keine Wirklichkeit als die, die wir in uns haben. Darum leben die meisten Menschen so unwirklich, weil sie die Bilder außerhalb für das Wirkliche halten und ihre eigene Welt in sich gar nicht zu Worte kommen lassen. Man kann glücklich dabei sein. Aber wenn man einmal das andere weiß, dann hat man die Wahl nicht mehr, den Weg der meisten zu gehen. Sinclair, der Weg der meisten ist leicht, unserer ist schwer. - ..."
-Ausschnitt aus dem Buch 'Demian' von Hermann Hesse-